Almsommer: Wirklich dem Himmel ganz nah?
Ein Sommer als Sennerin auf einer Alm arbeiten. Für viele klingt das nach einem Traum. Für Sibylle Leimeister war der Alltag auf der Berghütte oft ein Albtraum. Trotzdem würde sie es jederzeit wieder tun.
Im Nachhinein sagt Sibylle Leimeister, dass sie ziemlich blauäugig an ihren ersten Alm-Aufenthalt rangegangen ist. Die heute 60-Jährige kommt aus Nürnberg und arbeitet dort in einer Apotheke. Vom Leben auf dem Land und der Arbeit mit Kühen hatte sie keine Ahnung. Es war ihr Herz, das sie auf eine Alm zog, ausgelöst durch einen Artikel über eine Aushilfs-Sennerin. Ob sie das auch schaffen würde? Als ihr Sohn für ein Jahr nach Australien ging, war die Gelegenheit, es auszuprobieren. Zehn Jahre liegt das jetzt zurück. Seit April dieses Jahres kann jeder nachlesen, wie es ihr damals ging. Eine Lektorin, der sie zufällig auf einer Wanderung begegnete, überredete Sibylle Leimeister, ihre Tagebuch-Aufzeichnungen aus mehreren Alm-Aufenthalten in Romanform zu veröffentlichen. Ihr Buch heißt „Zeitlang“, das südtirolerische und auch bayerische Wort für Heimweh, aber auch für Sehnsucht. Gefühle, die die Städterin während und nach ihrem Sommer auf der Alm immer wieder befallen haben: Auf der Alm hatte sie Heimweh, aber kaum war sie wieder Zuhause, packte sie die Sehnsucht nach der Alm.
Dabei hatte Sibylle Leimeister keine einfache Zeit dort oben: Die Bäuerin, für die sie arbeitete, war hart und vom Leben gezeichnet, als Städterin war sie regelmäßig dem Gespött der Dorfleute ausgesetzt. Wochenende für Wochenende musste sie zudem Berge von Geschirr mit der Hand abspülen. Und das alles ohne Bezahlung. Oft genug brach sie vor Verzweiflung in Tränen aus oder schlief vor Müdigkeit im Sitzen ein.
„Wenn ich stöhnte und sie [die Bäuerin] mich dabei hörte, folgte unweigerlich ihr Sermon, wie es früher war: keine Melkmaschine, schlafen ohne Bett auf dem Boden der Tenne, alle Kleinkinder dabei, Wasser am Bach holen, alles mit der Hand waschen und dass sie die Alm in den vergangenen fünfzehn Jahren ohne fremde Hilfe bewirtschaftet hatte.“
In unregelmäßigen Abständen kam die Bäuerin vom Tal auf die Alm und half ihr. Ansonsten bewirtschaftete Sibylle Leimeister die auf 2000 Metern Höhe gelegene Alm in Südtirol alleine, unterstützt von zwei Hütebuben, damals 12 und 14 Jahre alt. Die Kinder passten auf die Kühe auf und melkten, die Sennerin machte Butter und bewirtete vorbeikommende Wanderer und Mountainbiker. Sie kümmerten sich um insgesamt 68 Kühe von verschiedenen Bauern aus dem Tal. So weit oben ist die Luft dünn und die schwere Arbeit, wie das Schleppen der vollen Milchkübel, noch anstrengender. Durch das Beweiden werden die Bergwiesen erhalten. Dafür gibt der Staat Geld. Bauern, die diese Aufgabe nicht selbst übernehmen können, beauftragen einen Senner mit der Bewirtschaftung der Alm – oder einen freiwilligen Helfer wie Sibylle Leimeister.
Was die Neu-Sennerin vorher nicht wusste: An der Alm führt ein beliebter Fernwanderweg vorbei, der ihr zuhauf hungrige und durstige Gäste bescherte. Die Agentur, die sie als freiwillige Helferin vermittelt hatte, hatte lediglich einen „kleinen Ausschank“ erwähnt. Der entpuppte sich jedoch als Riesenaufgabe.
„Wenn es denn sein musste, durften sie [die Wanderer] gerne ihre Wasserflaschen am Trog auffüllen, von mir aus ihre mitgebrachten Speisen verzehren und das Klo benutzen, sofern sie es anständig verließen. Mir lag daran, sie machten hier keine Aufstände und gingen ihres Weges. Ich hatte an vielen Tagen einfach keine Energie mehr für all ihre Bestellungen und Sonderwünsche. Der eine wollte die Knödel in Brühe, der nächste mit Krautsalat. Kaiserschmarren mit und ohne Rosinen, Spaghetti mit dieser oder jener Soße. Am ärgsten war es, wenn mehrere kamen und alle etwas anderes bestellten.“
Sibylle Leimeister hat hellblonde, halblange Locken. Sie wirkt dynamisch und zupackend. Beides konnte sie auf der Alm gut brauchen. Und sie hat Humor, der bei den ständigen Auseinandersetzungen mit der Bäuerin immer wieder durchblitzte. So war die Bäuerin der Meinung, dass das gute Essen nur die zahlenden Gäste bekommen sollten – und nicht ihre hart arbeitenden Helfer. Als die Bäuerin sich wieder einmal weigerte, ihnen von der frisch gekochten Speckknödel-Suppe etwas abzugeben und sie stattdessen auf die mehrere Tage alten Reste verwies, reichte es der Sennerin. Sie wusste, dass die Familie nicht arm war und dass sie es sich durchaus leisten konnten, ihre Helfer vernünftig zu verpflegen. Die Bäuerin selbst hatte ihr schließlich ihr riesiges, neu gebautes Bauernhaus im Tal gezeigt. So fand die Sennerin ihren eigenen Weg, mit der Situation umzugehen:
„Ich stellte die Enzianflasche vor mich hin und begann langsam, einen nach dem anderen zu trinken. Die Bäuerin starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und fixierte abwechselnd mich und die sich zusehends leerende zwischen uns stehende Flasche. Mir war gleichgültig, wovon es mir schlecht wurde und dem Durchfall, der mich hier immer wieder plagte, konnte so ein Kräuterschnäpschen sicherlich nur gut tun. Ich griff nach der Flasche, lachte vergnügt vor mich hin und goss mir den nächsten ein. [...] 'Der kommt jetzt weg', schrie Dette [die Bäuerin] mich an und riss den Schnaps mit einem Griff an sich. 'Erst, wenn anderes Essen auf den Tisch kommt', sagte ich starrsinnig und zog die Flasche wieder zu mir, um mir erneut daraus einzuschenken.“
Die Bäuerin knallte schließlich wutschnaubend den Topf mit dem warmen Essen auf den Tisch.
Mehrfach war Sibylle Leimeister kurz davor, ihren Aufenthalt vorzeitig abzubrechen. Als sie jedoch gefragt wird, ob sie mit ihrem heutigen Wissen wieder auf eine Alm gehen würde, sagt sie, ohne zu zögern: „Sofort.“ Es gibt kein Aber. Dabei überwiegen im Buch deutlich die unangenehmen Situationen und man fragt sich bis zum Ende, warum sie bleibt. Doch im Gespräch fängt sie an zu schwärmen: Von den Abenden auf der Alm zum Beispiel. Die Kinder waren von der Arbeit im Freien müde und sind oft schon um 19 Uhr schlafen gegangen. Danach hatte sie den Berg für sich. Es war ruhig, kein künstliches Licht störte und über ihr war der gigantische Himmel. Das waren kostbare Momente. Und sie waren nicht selbstverständlich: Oft wüteten in den Bergen Gewitter, die nur schwer auszuhalten waren, mit extrem lauten Donnerschlägen und grellen Blitzen.
Auch die stupide Arbeit hatte ihre guten Seiten: Das immer gleiche Abwaschen der Milchzentrifuge zum Beispiel, die sie brauchte, um Sahne und Butter herzustellen, machte ihren Kopf frei. Ihre Gedanken konnten ziehen, wohin sie wollten. Manchmal dachte sie für eine halbe Stunde einfach gar nichts. Ihr Geist kam vollkommen zur Ruhe, während ihr Körper von der anstrengenden Arbeit erschöpft war. „Ein wundervoller, meditativer Zustand“, sagt sie.
Bis heute profitiert Sibylle Leimeister von der Zeit. Von der Alm hat sie sich zum Beispiel mehr Gelassenheit fürs Leben mit hinunter gebracht. Früher hat sie sich oft über Kleinigkeiten aufgeregt, heute ist sie deutlich geduldiger – mit sich selbst und auch mit ihren Mitmenschen. Wenn schwierige Kunden in die Apotheke kommen, schicken ihre Kolleginnen sie vor. „Ich springe auch nicht mehr auf alles an, was an mich herangetragen wird.“ Wenn sie früher gefragt wurde, ob sie schnell noch einen Kuchen backen könnte, sagte sie immer zu. Heute überlegt sie vorher: „Ich lasse mich nicht mehr so antreiben“, sagt sie. Sie ist entspannter geworden und mehr bei sich. Die Ruhe, die harte, körperliche Arbeit und das Leben so nah am Himmel und an den Sternen haben ihre Spuren hinterlassen.
Sibylle Leimeister
Zeitlang
Athesia-Verlag
Paperback, 256 Seiten
ISBN: 978-88-6839-253-6
Text: Monika Herbst
Fotos: privat / Athesia-Verlag
Autorenfoto: © Glasow